Allnächtlich im Traum 2010
nach dem gleichnamigen Text von Heinrich Heine
für Tenorstimme und Klavier
Einige Überlegungen zu meiner Textvertonung „Allnächtlich im Traum":
Im Mai fand in Nürnberg ein Konzert anlässlich des 200. Geburtstages von Robert Schumann statt. In diesem Konzert erklangen unter anderem Lieder von Robert Schumann, denen Neukompositionen von Nürnberger Komponisten gegenübergestellt wurden. Mein Beitrag galt dem Text „Allnächtlich im Traume" von Heinrich Heine. Schumann hat dieses Gedicht innerhalb der Dichterliebe op. 48 vertont. Wie so oft bei Heine, erscheint die Pointe erst am Ende. Die überraschende Wende ereignet sich beim Erwachen aus dem Traum. Diesen besonderen Effekt habe ich hervorgehoben durch:
- Eine radikal geänderte Artikulation: aus vorherigem Legato und Portato wird nun ein scharfes Staccato.
- Aufgrund des immerwährenden Gebrauchs des Haltepedals war der Klang bisher verschwommen, schwebend. Auch Aktionen im Flügelinneren sollten eine fantastische, traumhafte Atmosphäre erzeugen. Anstelle des Haltepedals tritt das Sostenuto-Pedal, der Klang ist geschärft, direkt, vordergründig, ungestüm.
- Alle Bewegung in der Klavierstimme erfolgte bisher immer als fallende; nun geht es nur noch aufwärts.
- Der Tonsatz löst sich auf. Er wird diskontinuierlich. Es bleiben am Schluss nur noch Klangsplitter.
Die Tonhöhen nehmen ihren Ausgang von der bekannten Tonfolge, die Schumann im Carnaval op. 9 verwendet und dort als Sphinx bezeichnet. Diese vier Töne besetzten die tiefsten Töne des Klaviers, von unten nach oben a - h - c - es. Das höchste Register mit den abwärts gerichteten Tönen c - b - a - fis, ist die Umkehrung des tiefsten Klanges. Wiederum fällt die Symmetriebildung in der Herleitung des Tonmaterials ins Auge.
Dieser Klang aus den höchsten und tiefsten Tönen des Klaviers wird nun genau an der Stelle angeschlagen, wo Heine die Pointe ansetzt, beim Erwachen aus dem Traum. Einmal angeschlagen, werden diese „Sphinx-Töne" durch das Sostenuto-Pedal weiter gehalten und bilden die Resonanz für die aufwärts gehenden Staccato -Töne.
Die Symmetrie zeigt sich übrigens auch in formaler Hinsicht: Vergleichen wir den Beginn der 2. Seite mit dem 2. System von Seite 3, sehen wir auf Seite 3 in der Tenorstimme die transponierte Umkehrung der Töne fis - d - es in a - cis - c. Dies verweist auf eine zweiteilige, quasi symmetrische Anlage. Nur ist die Bewegungsrichtung im Klavier nicht mehr von oben nach unten, sondern umgekehrt. Der zweite Teil der Komposition verhält sich gewissermaßen komplementär zum ersten Teil.
Zurück zum Tonmaterial! Die Mitte von höchstem zum tiefsten Klang liegt bei den Tönen e -f. Auch hier werden die „Sphinx-Töne" angesetzt. Vom unteren Mittenton e geht es nach unten in der Umkehrung des Krebs- und in der Original-Gestalt, vom oberen Mittenton f nach oben in der Original-Gestalt und der Umkehrung.
Aus diesen seriellen Prozeduren lassen sich übergeordnete Tonvorräte erstellen, die im Ganzen wieder die 12 chromatischen Töne ergeben.
Oben auf S. 3 der Partitur z.B. kann man den Tonvorrat aus den Mittentönen in lückenloser Abfolge sehen. Der Beginn des Stückes erfolgt gleichermaßen aus der Mitte wie aus den Extremen, nämlich ausgehend von den tiefsten und höchsten Tönen, kombiniert mit den mittleren Tönen e und f. Beobachten wir die Singstimme, bemerken wir eine Zunahme der Töne: Auf der ersten Partiturseite umfasst die Singstimme 9 verschiedene Töne. Die fehlenden 3 Töne (fis - d - es) werden vom Klavier nachgeliefert. Zu Beginn der 2. Seite greift die Singstimme genau diese Töne auf und steigert die Anzahl der Gesamttöne auf 10. Beim nächsten Stimmeinsatz am Ende der 2. Seite umfasst die Singstimme den kompletten 12-stufigen Tonvorrat.
Ab der Mitte (S. 3) baut sich der Tonvorrat wieder ab: Zunächst 9 Töne, dann 8. Hier erfolgt ein langsamer Wechsel in den Tonvorrat, der sich aus den Extrempositionen ergab. Die Töne fis - cis - d gehören hier nicht hinein. Sie sind überzählig bzw. gehören noch zum anderen Tonvorrat. Beim nächsten Ablauf ist es nur noch der Ton cis. Am Ende bleiben einzig die mittleren Töne des Tonvorrats übrig: a - b - h - c (BACH!). Durch die immer länger werdenden Abstände zwischen diesen Tönen zerfällt der musikalische Zusammenhang vollends. Man könnte auch sagen: der musikalische Zusammenhang vergisst sich selbst.
Hörbeispiel
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