Salve Mundi salutare 2009

für Vokalquintett (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass) und Orgel

auf Texte von Arnulf von Löwen und Horst Bienek

  1. Introitus - 2. Ad Pedes - 3. Ad Genua - 4. Ad Manus - 5. Ad Latus - 6. Ad Pectus -

  2. Ad Cor - 8. Ad Faciem

Ein Werkstattbericht

Arnulf von Löwen war als Zisterzienser im Kloster Villers-la-Ville in Brabant. Seit 1240 war er dort Abt. Er ist der Verfasser eines Zyklus von sieben lateinischen Passionsgedichten unter dem Titel Salve Mundi salutare (Gegrüßet seist du, Heil der Welt), die jeweils ein bestimmtes Glied des gekreuzigten Christus meditativ verehren: Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz und Gesicht. Aus diesem, auch als rhytmica oratio bekannten Zyklus, der irrtümlich Bernhard von Clairvaux zugeschrieben wurde, komponierte Dietrich Buxtehude einen siebenteiligen Zyklus von Passions-Kantaten mit dem Titel „Membra Jesu nostri". Salve caput cruentatum, das letzte Gedicht des Zyklus, ist die lateinische Vorlage des bekannten Passionschorals O Haupt voll Blut und Wunden von Paul Gerhardt, den Johann Sebastian Bach in der Johannespassion und in der Matthäuspassion verwendet und der sich bis heute im Evangelischen Gesangbuch (Nr. 85) und im katholischen Gesangbuch Gotteslob (Nr. 179) findet.

Die Textauswahl orientiert sich an der von Buxtehude, geht aber nicht von subjektiven und inhaltlichen, sondern von rein formalen Gesichtspunkten aus: So wie man bei Fotos Negative und Positive unterscheidet, basiert die Textauswahl genau auf dieser Technik des „Umkehrens". Die Textauswahl ist - verglichen mit der von Buxtehude - gewissermaßen spiegelbildlich. Diese Prozedur hat zur Folge, dass es einerseits neue, bei Buxtehude nicht vorkommende Strophen gibt, andererseits sich aber die neuen Texte teilweise mit denen von Buxtehude decken. Aus diesem Muster - gleiche und abweichende Passagen bezüglich der Buxtehude´schen Textauswahl - ist eine rhythmische Struktur abgeleitet, die insbesondere im Herzstück (Ad Cor) ein sich durch das ganze Stück ziehende Repetitionsmuster generiert. In Ad Latus ist die mittlere Strophe (d. i. die arithmetische Mitte des ganzen Zyklus) aus diesem Muster abgeleitet. Auch der ostinate Rhythmus in I (Ad Pedes) orientiert sich ganz an diesem Muster.

Die Verteilung der Stimmen erfolgt grundsätzlich auch diesem Prinzip (spiegelbildlich positiv - negativ; ) der Ableitung der Textstrophen aus der Fassung von Buxtehude: I: T/B - VII: S/Mezzo/A (Männer- gegen Frauenstimmen) II: S solo - V: alle (Solo gegen alle) III: S/A/B/ gesprochen, Mezzo/T gesungen - VI: S/A/B gesungen, Mezzo/T gesprochen IV: 2. Strophe (als Mitte) Mezzo/A/T, Anfang Mezzo/T, Schluss S/B, dann noch A/Mezzo/T

Die Tonhöhendisposition geht von der Mitte der Orgel aus: es1/e1. Von hier - durch die Aliquoten (Obertöne) Quint- und Terz - entstehen die Tonhöhen es - e - g - gis - a - b - h - c. Im „Herzstück" des Zyklus (VI. Ad Cor) werden diese Töne sowohl horizontal (Tonhöhen der kanonisch geführten Stimmen) als auch vertikal (Liegeklang der Orgel) gesetzt. Es handelt sich hierbei um einen Proportionskanon mit den Verhältnissen 5:7:8. Die Gesamtzahl der Achteltriolen-Werte der kanonisch geführten Stimmen (S/A/B) beträgt 2960. Aus genau 2960 Silben besteht auch die Dichtung des Arnulf von Löwen: Je 1 Gedicht zu den 7 Gliedern Jesu mit je 10 Strophen (Ad Cor hat abweichend 14 Strophen) macht 74 Strophen. Jede Strophe besteht aus 5 Zeilen aus 8 Silben. 74 x 5 x 8 = 2960. Ad Latus (IV) bildet die arithmetische Mitte des ganzen Zyklus. So basiert die 2. Strophe als Zentrum auf den beiden Mitten-Tönen es/e, hier als von der Orgel erzeugten Obertönen, d.h. die Töne sind nicht real gespielt, sondern erklingen als Obertöne von anderen - gespielten/gegriffenen - Grundfrequenzen. Die Strukturierung dieser 2. Strophe verdichtet die aus der Spiegelung der Textauswahl bei Buxtehude entstandene eigene formale Anlage. Strophe 1 und 3 greifen den Ad Latus-Gedanken auf (Adlatus hier verstanden als untergeordneter Gehilfe und als Beistand), indem 1. Der Orgelklang durch Aliquoten auf eine andere Ebene geworfen wird und damit Auslöser und Hilfe für die einsetzende Singstimme wird. Die nur 6 Töne der Singstimmen (Bereich zwischen g und c) ergeben sich ausnahmslos als Obertöne (Quinte oder Terz) der Orgel. Die Orgel selber verwendet also die 9 Töne (c - cis - d - es - e - f - fis - g - gis), von denen aus eine Quinte oder Terz zum Ton der Singstimme führt. Dieses Verhältnis der Anzahl der Töne (9:6) mag 2. ebenfalls den Gedanken des Adlatus erinnern: Der Gehilfe, der dem Meister nur bis zur Schulter reicht, noch nicht auf der gleichen Stufe, aber immerhin schon relativ zu ihm gewachsen ist. Die Orgel gibt durch die Achtelbewegungen der Pedalstimme (wiederum Terz- oder Quintintervalle) Tempo und Duktus vor, dem die Singstimmen zu folgen haben. Zudem verweist sie durch ihren starren, marschartigen Charakter auf das 1. Stück (Ad Pedes). Die Singstimmen selbst sind eng aneinander gekettet, folgen einem heterophonen Prinzip, sie stützen bzw. unterstützen und helfen sich gegenseitig.

Ad Pedes (I): Orgel nur mit den Füßen (Orgelpedal). 2 chromatische Linien aus je 6 Tönen durchkreuzen sich. Von unten nach oben: es- e - f - fis - g - gis, von oben nach unten f - e - es - d - cis - c. Alle Stimmen folgen einem ostinater Rhythmus aus dem oben beschriebenen Muster (Textzusammenstellung mit teilweiser Deckungsgleichheit). Durch Verschiebung einer Linie um jeweils ein Achtel geraten die beiden Pedalstimmen in „Gleichschritt", klanglich durch Terzen und Quinten ebenfalls verschmolzen. Gleichzeitig Verweis aus IV und auch auf VII. Tendenz: Von gesprochen zu gesungen, von Linie zu Klang, von hartem, rauhen zu enthobenem, lichten Klang.

Ad Manus (III): Nur mit den Händen, auf dem Manual gespielt. Liegeklang aus 4 Tönen der Orgel als Darstellung von Raum und Zeit (vgl. VI). Die Töne und ihre Positionen entsprechen genau denjenigen wie bei VI. Die 4 anderen - fehlenden - Töne werden zu einem, aus immer diesen 4 Tönen bestehenden melodischen Bogens gesponnen, rhythmisch ostinat aus - bestehend aus der immergleichen Folge von 2 - 5 - 8 - 3 - 7 Vierteltriolen). Die Werte sind der Textstruktur des Gedichtzyklus des Arnulf von Löwen entlehnt: 7 Gedichte; jede Strophe zu 5 Verse mit je 8 Silben; pro Stück sind immer 3 Strophen ausgewählt; nicht nur jeweils 2 benachbarte Verse bilden einen Reim, auch der jeweils letzte Vers zweier benachbarter Strophen reimen sich! Dieses rhythmisches Ostinato überlagert die 4 Töne des melodischen Bogens. Das Gedicht „Die Zeit danach" (Horst Bienek) bildet das Rückgrat, während dazu zwei andere Stimmen die ausgewählten Strophen von Ad Manus singen: Eine Collage aus unterschiedlichen Elementen (Gleichzeitigkeit von Texten verschiedener Herkunft; Gleichzeitigkeit von gesungen und gesprochen; Dauerngestaltung und Tonhöhen aus unterschiedlichen Quellen). Diese Collagenprinzip findet seine Entsprechung - dann aber noch viel umfangreicher - in VI (Bienek-Text gegen Löwen-Text; Tonlängen und Tonhöhen unterschiedlicher Quellen; gesungen und gesprochen, rhythmisches Repetitionsmuster aus der Textspiegelung; kurzes Zitat aus Buxtehudes Membra-Komposition.

Ad Faciem (VII): Wie bei den bisher beschriebenen Stücken ebenfalls ein höchst konstruktives Prinzip nicht nur in der Klangbildung der Frauenstimme: Die 9 Töne aus der Mitte (Ad Latus) des Zyklus (c - cis - d - es - e - f - fis - g - gis), geordnet in Dreiergruppen (c - cis - d; es - e - f; fis - g - gis) werden vertikal kombiniert, sodass sich insgesamt (3 X 9) 27 verschiedene Klänge ergeben, die per Zufallsverfahren aufeinander folgen. Die Längen greifen wieder auf die Zahlen 2 - 3 - 5 - 7 - 8 zurück. Innerhalb der Dauernreihe werden werden aber nach jedem neuen Durchgang die Positionen vertauscht. Auch die Orgelstimme folgt diesem rhythmischen Muster, ebenfalls bestimmt durch permanente Variierung der Reihenfolge der Dauern. Vergleichbar dem 1. Stück (Ad Pedes: horizontal-vertikal) erfolgt hier der Zug ins Vertikale, ins Große.

Im Gegensatz zu den sehr konstruktiv gearbeiteten Stücken I, III, IV, VI, und VII, sind die Sätze II (Ad Genua) und V (Ad Pectus) von subjektiven Vorstellungen geprägt; sie repräsentieren die zwei Seiten ein und derselben Medaille und orientieren sich unmittelbar am Text, reagieren auf bestimmte Textaussagen und lehnen sich an konkrete Vorstellungen an. Ad Genua ist geprägt vom dem aus dem Text abgeleiteten Gegensatz hart und weich bzw. hart und schwach („Actu vilis, corde durus"). Gegensätze auch durch Sprechgesang und Gesangsstimme. Das Klangbild wird bestimmt von der Reibung der kleinen Sekund, die am Ende die Mitte des Tonraums, nämlich e1/es1 festhält, gleichzeitig aber durch hinzugefügtes (sehr hohes) g(3) und sehr tiefes C als C-Durmoll-Klang (Ausschnitt aus dem „Ad Cor-Klang") diesen Gegensatz aufhebt. Das Ganze solistisch, individuell, persönlich. Ad Pectus wird von der Vorstellung eines kollektiven Zusammenbruchs (Kollaps) bestimmt. Die Stimmen sind sehr dicht ineinander verwoben. Hinzu kommt ein immer stärkeres Überdecken mit Liegeklängen der Orgel bis zum Cluster. Am Ende wird das miserere mei (rhythmisch an die Morsesprache angelehnt) von der Orgel in Wiederholungen gesteigert (vgl. Kyrie) und in die Extreme geführt, wo es „außer Tritt gerät" und zusammenbricht.

Noten
Hörbeispiele
Introitus.m4a
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I - Ad Pedes.m4a
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II - Ad Genua.m4a
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III - Ad Manus.m4a
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IV - Ad Latus.m4a
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V - Ad Pectus.m4a
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VI - Ad Cor.m4a
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VII - Ad Faciem.m4a
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Schlagwörter

| Ensemble | Orgel | Stimme/Gesang |